________________________________________________________________________________ Telepolis Amerika Online #15 Mark Amerika 09.02.2000 Schreiben als Hacktivismus: Eine intervenierende Satire "Meine Aussöhnung mit der Yahoogattung im Allgemeinen wäre vielleicht nicht so schwierig, wenn sie sich nur mit jenen Lastern und Torheiten begnügen wollten, zu denen sie von Natur aus berechtigt sind." Jonathan Swift, Gullivers Reisen Während ich an dieser Kolumne schreibe, läuft mein Fernseher, und auf dem Bildschirm ist eine Liveaufnahme eines klaren blauen Himmels mit einem Objekt darin zu sehen, ein großes vielfärbiges Flugobjekt mit dem Schriftzug MONSTER.COM. Es handelt sich um Werbung während eines Footballspiels, zu dem der Fernseher jetzt hinüberblendet. Aus einem bestimmten Grund erinnert dies unmittelbar an den Beginn von Thomas Pynchons Die Enden der Parabel, wo es heißt: Ein Heulen kommt über den Himmel. Das ist früher schon geschehen, mit diesem aber lässt sich nichts vergleichen. Ich beabsichtige, Pynchons Vokabular und Syntax zu sampeln und zu manipulieren und ihre rhetorische Aura auf die Ökonomie der Neuen Medien anzuwenden. Um nämlich die Auswirkungen einer MONSTER.COM am Himmel zu übertrreiben (ein zusätzliches r obendrein). Um auf irgendeine Weise den als-selbstverständlich-gesetzten Kontext dessen zu verfremden, was ich zu sehen bekomme, was ich jetzt über den Internet-Kapitalismus und die Dot.com-Manie weiß, die das Potenzial des E-Commerce über alle Maßen hypt: "Das ist früher schon geschehen, mit diesem aber läßt sich nichts vergleichen." Diese Absicht, eine hyperbolische Version der von mir beobachteten Ereignisse meiner Zeit zu kreieren, ist keineswegs ungewöhnlich. Das Bedürfnis, etwas zu verspotten, das bereits eine Selbstparodie ist, lässt sich leicht in die meta-ironischen Revolutionen des Alltags berführen, die wir ins neue Jahrtausend tragen. Der Dichter Ezra Pound, dessen eigene Hyperbel verdreht wurde, um dem faschistischen Regime in Italien während des Zweiten Weltkriegs zu entsprechen, war im 20. Jahrhundert bekannt für seinen simplen und doch direkten Aufruf an alle aufstrebenden Schriftsteller der neuen Weltordnung: "Mach es neu!" war seine Parole, was sie dann auch unaufhörlich getan haben, so wie die Werbegurus von der Madison Avenue, und wie noch nie zuvor scheinen wir ihnen das abzukaufen. Wie wäre es aber mit einer gesampelten Manipulation jenes Diktums von Pound in etwas Beunruhigenderes? Wagen wir den unsicheren Schritt der Russischen Formalisten und ihrer Praxis der ostranenie, dann sehen wir uns vielleicht etwas anderem gegenüber, in etwa: "Mach es fremd!" Es fremd machen, ist dieser Tage eine Herausforderung, vor allem angesichts der hochauflösenden Fremdheit, die von den Kapitänen des kommerziellen Bewusstseins in Umlauf gebracht wird, deren Flugobjekte am 1. Januar 2000 hoch über dem Footballstadium schwebten. Diese fremdartigen Bilder von Flugobjekten am Himmel werden zur Jahrtausendwende in Millionen von Haushalten übertragen. Das Problem für den zeitgenössischen Schriftsteller, der darum weiß, dass das Konzept des "Literarischen" heute mehr denn je in Gefahr ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wie kann man MONSTER.COM noch fremder machen, als es bereits ist? Auf der Homepage von MONSTER.COM finden sich zahlreiche Wahloptionen, inklusive des üblichen Angebots von Chats, Umfragen, Suchmaschinen, etc. Aber das interessanteste Teil Rhetorik auf der Homepage dieser Site sagt mir: Erkunden Sie die Möglichkeiten des weltweit ersten Auktions-Marktplatzes für Freiberufler. Der Ausdruck "Erkunden Sie die Möglichkeiten" ist hervorgehoben, und ein Klick bringt dich zu so etwas wie einem anmaßenden Sklavenmarkt, wo Arbeitgeber Toptalente in Echtzeit anwerben können. Man könnte meinen, dass diese Art Quellenmaterial reif wäre für einen satirischen Überfall, vor allem auf Grund der Beschaffenheit des Domainnamens der Site. Ich meine, wer SIND denn die Monster des neuen Jahrtausends? Die Realität aber auf Grund ihrer eigenen Bedingungen zu verspotten, heißt sich im selben Umfeld zu bewegen, in dem es operiert. Ein witziger Roman wird nicht mehr genügen, vor allem weil der Großteil deiner Leser immer mehr ihrer Zeit online mit dem Surfen im Netz verbringt. Operiert man aber im Yahooumfeld, so besteht die Gefahr, dass der Schriftsteller selbst zu einem Yahoo wird. Was also soll ein Schriftsteller tun? Ein Schriftsteller der Neuen Medien, der aus der rivalisierenden literarischen Tradition kommt, müsste sich zu einer Art Netzwerk-Provokateur rekonfigurieren, der die Satire unter anderem als politische Waffe einsetzt. Weder als Schriftsteller, der beißende Kulturkritiken der Neuen Medien für sein nächstes Buch verfasst, noch als gepriesener HTML-Held eines hippen Hypertext-Online-Zines, muss sich der Schriftsteller der Neuen Medien, der in die Y2K-Dämmerungszone eintritt, gänzlich vom "Literarischen" befreien und die rhetorisch aufgeladene Sprache sowie die Syntax (das Protokoll?) der Netzwerk-Umgebung einsetzen, um eine interventionistische Kunstpraxis zu schaffen, die die allzu-entmenschlichenden Status-Quo-Effekte des Monsters verfremdet. Ein Thema, das sich dem Schriftsteller der Neuen Medien ständig neu aufdrängt, ist die Kommerzialisierung von Menschen und ihres Geldes. Das Spektakel einer MONSTER.COM am Himmel bietet dafür nur ein Beispiel. Der jüngste Rummel um das ETOYS-kontra-ETOY-Debakel ist ein anderes. Wie viele Leser bereits wissen, hat der E-Commerce-Riese ETOYS vor kurzem die europäische Kunstsite ETOY geklagt und die Künstler damit gezwungen, ihre Website zu schließen. Das führte weiters dazu, dass die totalitären Network Solutions die Weiterleitung von Email sperrte, von der das küstlerische Überleben ETOYs abhängt. Diesen letzten Schritt setzte Network Solutions, nachdem sich ETOY geweigert hatte, die kolportierte Summe von einer halben Million Dollar in bar und Aktienbezugsrechte von ETOYS als Entgelt für ihren Domainnamen anzunehmen, der ja letztendlich ihre Identität ausmacht. Man könnte die Künstlergruppe ETOY als Hacktivisten bezeichnen, als aktivistische Kunsthacker also, die das Netz und andere Ressourcen nutzen, um eine Art interventionistisches Cybertheater (ähnlich dem politischen Straßentheater) zu schaffen, das seine Wurzeln in den alternativen Schreibkapriolen von Artaud, Lautréamont, des Living Theaters und des Situationismus hat sowie einer Kulturästhetik des Avant-Pop frönt, die von Rockbands wie Devo getragen wird. Andere Sites produzieren ein ähnliches Onlinetheater. ETOYS brachte beispielsweise auch ein Unterlassungsurteil gegen das Electronic Disturbance Theatre ein und schnitt es damit vom Netz ab, während es seine eigene Site umgestaltete, um gegen Attacken des zivilen Ungehorsams gerüstet zu sein, die das EDT zu bewirken vermag. Und dann gibt es noch die Site von RTMARK, die ihre clever gestaltete Netzsatire erfolgreich als politische Waffe zur Intervention in der Mainstream-Firmenwelt eingesetzt hat. Ihre Sites gwbush.com und gatt.org verweisen auf eine Schreibpraxis der Neuen Medien, die viele jener Prinzipien anwendet, die ich in dieser Kolumne ausführlich behandelt habe, vor allem die Praxis des Surfens -Sampelns-Manipulierens, die Daten aus den Mainstream-Sites sampelt, zu denen man im Netz gesurft ist, und diese Daten in der Folge manipuliert, um übertrriebene (immer das zusätzliche r) satirische Effekte zu erzielen, die darauf abzielen, unsere konventionellen Seh-/Surf-Gewohnheiten zu zerrütten. Eine Site wie gatt.org und was sie implizit betreibt, "macht es" nicht notwendigerweise "neu", aber sie "macht es fremd", besonders für jene nichtsahnenden Seelen, die versehentlich darauf stoßen. Was sowohl ETOY wie RTMARK verspotten, ist der "Firmen-Körper" - das Korpo-Reale -, und was gefeiert wird, ist das Kollektiv von Künstlern oder Hacktivisten als entkörperlichte "Intelligentsia", die die zügellose Kommerzialisierung des Netzes durch die Körperschaftswelt sabotieren (die Profite des Materiellen kontra die Propheten des Geistes). Die Anonymität des Personals, das diese beiden Sites entworfen hat, zerrüttet unsere Vorstellung davon noch mehr, was ein Schriftsteller der Neuen Medien ist oder sein kann. Wie dies stets für ein hyperbolisches Schreiben gilt, das sein Leben ALS Überlebenspraxis in einem feindlichen Umfeld riskiert, so müssen uns heute Künstler der Neuen Medien vorsetzen, was Raymond Federman in seinem klassischen postmodernen Roman Alles oder nichts als "realen fiktiven Diskurs" bezeichnet. Um überleben zu können, muss sich dieser Diskurs auf einen pseudo-utopischen Themenpark einlassen, der von E-Commerce-Sites auf der Suche nach Augen beherrscht wird. Viele dieser Sites bevölkern monströse Figuren mit Fatbrains und Hotbots, die unablässig versuchen, dich in ihre Warenzeichen-Domain zu locken. Sofort kommen einem andere Fragen in den Sinn: Gibt es hier eine Geschichte? Wenn ja, wessen Geschichte ist es und wer schreibt sie? Der "reale fiktive Diskurs" ist heute ein Netz-im-Prozess, das offen ist für eine intervenierende Satire, die sich zu unterschiedlichen Zeiten als Investmentfonds von RTMARK, als Performancekunst-Spektakel von FAKESHOP, als Emission fingierter Aktienzertifikate von ETOY, als Ersatz-Emails oder als perfekt formulierte Pressemitteilung zeigen kann. Hier ist zum Beispiel ein Auszug aus einer Pressemitteilung von RTMARK, die kürzlich veröffentlicht wurde, nachdem ETOYS über die Medien verlauten ließ, die energische Verfolgung des Verfahrens gegen ETOY einzustellen: Mit 29. Dezember verfolgt ETOYS, die riesige Online-Spielwarenfirma, weiterhin die Klage gegen ETOY, die wichtigste Internet-Kunstgruppe, um ETOY daran zu hindern, die URL etoy.com zu verwenden, die die Künstler bereits lange vor der Gründung der Spielwarenfirma benutzt hatten. Laut Wired hat ETOYS jedoch eingewilligt, vorübergehend von der Klage "abzusehen" (ohne diese jedoch fallen zu lassen). "Es ist gut, dass ETOYS nun so weit beschämt wurde, gegenüber der Presse zu lügen, ihre 'Intention wäre es nie gewesen, die freie künstlerische Äußerung zum Schweigen zu bringen'", sagte Ernest Lucha, der Sprecher von RTMARK. "Aber jetzt von der Klage 'abzusehen', da ihre Einkaufssaison vorbei ist, und ohne der geringsten Spur einer Entschuldigung, ganz zu schweigen von einer Entschädigung für ETOY für ihren finanziellen und emotionalen Albtraum, ist einfach jämmerlich und wird eine Menge von Leuten nicht unbedingt überzeugen." Die Pressemitteilung erwähnt auch ein Onlinespiel, "dessen Ziel es ist, den Preis für eine Aktie von ETOYS auf $0,00 zu drücken." In diesem Neue-Medien-Schreibszenario nutzt der fiktive Ernest Lucha einen sehr realen Diskurs, den er der Presse mitteilt. Wird dieser Diskurs angemessen kontextualisiert, kann er in der Folge zu seinem eigenen Mem oder Medienvirus werden und sich des Mainstream-Wirts auf eine Weise bedienen, die das autopoietische Umfeld verändert, in dem das Netz gedeiht. Die einflussreiche Wirtschaftsnachrichten-Site Bloomberg.Com hat beispielsweise die Pressemitteilung von RTMARK in voller Länge virtuell wieder veröffentlicht, und der Aktienpreis von ETOYS war tatsächlich kontinuierlich gesunken. Das soll nicht heißen, dass das ETOY-Debakel oder die RTMARK-Attacke allein für den rezenten Markteinbruch von ETOYS verantwortlich waren, aber die Information in ihrer Pressemitteilung ist in einer Weise verzerrt, die im Wesentlichen jene Art und Weise nachäfft, wie Pressemitteilungen von Unternehmen verzerrt sind, inklusive Sound-Bite-Reklamen, Adressen von Websites zur weiteren Information und eigenen Anzeigen für RTMARK-Kunstprodukte (-projekte). Diese Repräsentation einer Unternehmenskultur wird auf subtile Weise "fremd gemacht", und RTMARK erzielt in der Folge und letztendlich einen größeren Effekt als mit einem satirischen Roman über die außer Kontrolle geratenen wirtschaftlichen Praktiken der meisten multinationalen Firmenmonster. Mit anderen Worten: Hier handelt es sich um eine ernste Angelegenheit. Die Pressemitteilung lässt uns weiters wissen, dass "die gegen ETOYS gerichteten Bemühungen von Aktivisten mindestens so lange andauern werden, bis ETOYS mit ihrem 'Rückzug' ernst machen", wobei ein besonderer Wert auf das "Onlinespiel" gelegt wird, dessen Ziel außer der Senkung des Preises für ETOYS-Aktien auf $0,00 darin besteht, Mitarbeiter von ETOYS dazu zu bewegen, "ihrer Firma zu kündigen", und ETOYS-Aktionäre zu drängen, auf "die Entlassung von Toby Lenk", des CEO von ETOYS, zu pochen. Auf welche Weise wird Toby Lenk, CEO von ETOYS und Ziel von RTMARKs Gegenkampagne, Teil dieses "realen fiktiven Diskurses"? So wie das häufig im Polittheater der Fall ist, hat Lenk die Rolle des Bösewichts, den man loswerden muss, damit die freien Künstler, die den Kampf ja nicht angezettelt hatten, mit der "Verfremdung" der Firmenkultur fortfahren können. Diese "'Verfremdung' der Firmenkultur" stellt dieser Tage eine besonders schwierige Aufgabe dar, wenn man bedenkt, dass die Firmenkultur ja bereits "fremd" ist, und zwar auf eine völlig humorlose Art und Weise, und dass der Versuch, sie zu verspotten, wahrscheinlich schwieriger ist als je zuvor. Man fragt sich, was ein Swift oder ein Rabelais wohl in dieser Situation gemacht hätten. Es ist eine Sache, die Websites oder "Auras" von Firmen zu surfen-sampeln-manipulieren, aber etwas gänzlich anderes, die eigenen Websites und Performances für die Schaffung einer interventionistischen Netzkunst-Praxis einzusetzen, die vorübergehend die hohen Spiele in der Welt des E-Commerce zum Entgleisen bringt. Und wie lange wird es noch dauern, bis die Aufrührer einfach mittels feindlicher Übernahme aufgekauft werden? Das verleiht dem Begriff "Marktzensur" eine neue Bedeutung und zeigt die potenziellen Gefahren einer E-Commerce-Oligarchie, die bald jeden, Netzkünstler mit eingeschlossen, zu Yahoos machen wird ("Ich hatte bisher das Geheimnis meiner Kleidung verborgen, um mich so sehr wie möglich von jenem verfluchten Geschlecht der Yahoos zu unterscheiden; jetzt aber merke ich, dass es vergeblich war, dies noch länger zu tun"; noch einmal aus Gullivers Reisen). RTMARK und ETOYS sind vielleicht nicht so abgefahren wie Rabelais' Gargantua und Pantagruel oder der Swift von Gullivers Reisen, aber sie liefern das Modell eines über das Netz verbreiteten Störtheaters, das dahingehend programmiert ist, neu entstehende Schreibpraktiken der Neuen Medien zu mehr zu machen als nur zu einem Spiel. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Thomas Hartl http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/ame/3484/1.html ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. more information: mail to: majordomo@rolux.org, subject line: , message body: info. further questions: mail to: rolux-owner@rolux.org. archive: http://www.rolux.org