________________________________________________________________________________ /* und hier noch das papier vom letzten dienstag ... */ Fast ein Jahr lang, 1999, muss AOL Boris Becker Deutschland fragen lassen, ob er etwa schon drin sei im Internet. Die Unterscheidung zwischen drinnen und draussen aufmachen, das Maerchen vom Internet als zu entdeckendem Raum einfuehren (als bestuende es aus etwas anderem als verbrachter Zeit, was recht schoen in jenem Filmchen der ran SAT1 Fussball Redaktion zum Ausdruck kommt, in dem ein zweitklassiger Fussballstar die Beckersche Pose einnimmt, um zu fragen, ob er etwa immer noch drin sei), den aufgeschlossen ignoranten Internet-Deutschen herstellen, der keiner Komplexitaet anders begegnen kann als mit der staunenden Feststellung, wie einfach das ja alles in Wirklichkeit ist. Fast ein Jahr lang muss AOL das, "bis die Politik endlich reagiert". Auf der Cebit 2000 verkuendet Gerhard Schroeder, dass es jetzt reicht, dass zu lange gezoegert worden ist, dass niemand mehr wegschauen darf: Alle muessen ins Internet. Koennen sie aber nicht, weil schon das Versenden von e-mail sie technisch ueberfordert, und so entsteht die "Green Card"-Initiative, die kaum eine Woche spaeter in der "Kinder statt Inder"-Kampagne <1> ihre kongeniale Umsetzung findet. In den Fussgaengerzonen der Berliner Republik tauchen hired Promojugendliche von hiring Mittestartups auf, die "Sind Sie Inder?"-T-Shirts tragen, saemtliche Tageszeitungen veoffentlichen ueber Wochen Fotos angeblicher Inder, die meist zu zweit oder zu dritt vor oder hinter angeblichen Internetrechnern sitzend abgebildet sind, und der Stern waehlt fuer sein Cover die Fotografie einer Frau, die indisch aussehen soll und auf deren Stirn jemand, dessen Namen und Anschrift uns fehlt, ein @-Zeichen montiert hat. Ein schlechterer Start einer Nation ins Internet laesst sich kaum vorstellen. Deutschland kommt zu spaet, und Deutschland merkt das auch, und Deutschland geniesst das sogar, indem es sich ueber Wochen die Geschichte dieser "Inder" weitererzaehlt, welche den hiesigen Wirtschaftsstandort nicht nur durch nur durch ihre angeblichen Computerkennnisse demuetigen, sondern zudem durch ihre unverhohlene Weigerung, von den Offerten der Deutschen auch nur Notiz zu nehmen ("stattdessen gehen sie lieber gleich in die USA"). Der erste Inder, dem eine Green Card verliehen wird, ist folglich auch gar kein Inder, sondern bloss ein Indonesier, der bekundet, sich auf Deutschland zu freuen, woraufhin kaum vierzehn Tage vergehen, bis unter dem Betreff "iloveyou" ein philippinischer Hobbyprogrammierer mit einem simplen Visual Basic Script weite Teile der deutschen Wirtschaft zum Stillstand bringt. Regierungssprecher Heye erklaert unter sichtlich gequaeltem Grinsen, ein solcher Inder koenne getrost zu Hause bleiben. Bewundert gerne, respektiert sowieso, aber ausgerechet _geliebt_ werden aus einem fernen Osten will hier ganz bestimmt niemand. Und als waere fuer den Spott nicht schon gesorgt, hat der Verfasser seinem Script <2> auch noch die Kommentarzeile "i hate go to school" vorangestellt und so das Phantasma von den strebsamen, wissbegierigen und ehrgeizigen Computersklaven, die in ihren Favelas C++ und Wirtschaftsenglisch bueffeln, ausgesprochen elegant gekontert. Was bleibt, sind zahlreiche Experten, die die Abhaengigkeit der deutschen Industrie von Microsoft-Produkten beklagen, Innenminister Schily, der diverse task forces einsetzt und ein weiteres Mal verkuendet, die Festung Europa werde aus Linux gebaut -- sowie das langsam Lauterwerden der leisen Ahnung, dass die Angst vor dem Osten des Internet, die in Europa umgeht, von der Angst vor dem Westen des Netzes noch uebertroffen werden wird. Rassismus, Antisemitismus. 99/00 ist naemlich auch das Jahr, in dem das ZDF Thomas Gottschalk Deutschland schon mal fragen laesst, was in der Brieftasche von Bill Gates eigentlich drin ist, und in Zukunft werden wir es zu tun haben mit der Erzaehlung von einem Onkel aus Amerika, der durch spekulative Gewinne fernab jeder realen Wertschoepfung so unermesslich reich geworden ist, dass er unsere Wirtschaft beherrscht, unsere Computer verwanzt und unsere Museen leerdigitalisiert, wenn es uns nicht gelingt, sein Monopol zu zerschlagen, also Arm in Arm mit Lazzarato auf den letzten sterbenden Dinosaurier des Fordismus einzudreschen und unter der Flagge des Pinguins -- dem tatsaechlichen Wappentier der Kontrollgesellschaften, dessen watschelder Gang die Windungen der Schlange an Komplexitaet noch uebertrifft -- uns zu einer kommunitaristischen Open Source Gemeinde fest zusammenzuschliessen. Leider hat Europa keine schlechten Chancen. <1> http://rolux.org/archive/archive.php3?message=579 <2> http://rolux.org/archive/archive.php3?message=660 ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. post to the list: mailto:inbox@rolux.org. more information: mailto:minordomo@rolux.org, no subject line, message body: info rolux. further questions: mailto:rolux-owner@rolux.org. home: http://rolux.org/lists - archive: http://rolux.org/archive