________________________________________________________________________________ Jungle World 47/2000 Eins in die Fresse ... ... heißt Kanak Attack. Über die Verfilmung von Feridun Zaimoglus »Abschaum« diskutieren M. Baute, L. Blanke, M. Freerix, C. Lenssen, S. Pethke und M. Twellmann Michael Baute: Zunächst hört man die Stimme von Ertan, der aus dem Off die Figuren vorstellt. Dabei wird auch das erzählerische Programm angekündigt: »Das ist eigentlich keine Geschichte, die man erzählen kann, das ist ein Zustand.« Dann kommt immer wieder diese weiße Typewriter-Schrift vor schwarzem Hintergrund mit den jeweiligen Geschichten- und Anekdotenüberschriften, wie im Buch von Feridun Zaimoglu, zum Beispiel »Die Istanbul-Story«. Statt Zustandsbeschreibungen zu liefern, erzählt der Film doch lieber kleine Stories nach bekannten Mustern: Freundschaft und Verrat, die Liebe zu einer Prostituierten, kriminell werden, auf die schiefe Bahn geraten. Claudia Lenssen: Das fand ich gar nicht, dass da ein Weg beschrieben wird, wie jemand auf die schiefe Bahn gerät. Der Film beschreibt ein Lebensgefühl oder einen Zustand, einen Kreis, eine Kreisbewegung. Und es gab ja auch nicht diesen sozialtherapeutischen Hintergrund: »Seht her, so kann das schief gehen!« Das war es ja nun gerade nicht. Ludger Blanke: Aber dass diese Umgebung, das Deutsche an Kiel und drumherum, gar nicht vorkommt - mit Ausnahme der Polizei, die da ab und zu mal eine Rolle spielt, weil es ja eben auch ein Gangsterfilm ist -, war das nicht merkwürdig? Sogar an den Litfasssäulen klebten Plakate von Öger-Tours. Dabei suggeriert der Filmtitel doch so etwas wie einen Konflikt. Ich habe mit einer Attacke auf die deutsche Spießigkeit gerechnet, die gab es aber nicht. Im Film ist nicht zu sehen, dass die Jungs fremd sind in dieser Umgebung. Die fühlen sich zu Hause. Gut, ich weiß nicht, ob die so realistisch ausgestattet waren, aber sie waren jedenfalls keine Opfer. Stefan Pethke: Dass nicht von Opfern erzählt wird, das war Lars Becker überwichtig. Blanke: Das finde ich auch richtig. Und mein Wunsch, die Jungs mehr in einer realistisch-deutschen Umgebung zu sehen, das wäre eben mit der Gefahr verbunden, ein Ausgeschlossenenverhältnis oder Opferverhältnis zu konstruieren. Die Figuren sind ziemlich sexy: Sie sehen gut aus, wissen, was sie wollen, haben ihre Sprache. Lenssen: Die haben eigentlich keine Angst! Blanke: Die haben keine Angst! Finde ich total wichtig, das zu erzählen. Wäre es nicht trotzdem großartiger gewesen, wenn am Ende der Held Ertan erschossen worden wäre und nicht sein Freund Kemal? Das wäre zwar traurig, aber das hätte gezeigt, dass dieses Kind es nicht schaffen will in dieser Gesellschaft, dass die Gesellschaft dieses Kind nicht erwachsen machen kann. Lenssen: Ich glaube, gerade weil Ertan keine Angst haben sollte, kam auch der Entschluss zustande, ihn überleben und am Schluss mit den beiden Frauen rausgehen zu lassen. Er hat am Ende gleich zwei Frauen, und zwar als Freundinnen. Er wird nicht als der Türke, der auf dem Weg zum Zuhälter ist, dargestellt. Durch die Geschichten vorher ist die Umarmung der beiden Frauen freundschaftlich und menschlich. Ich glaube, Becker hat die Vorstellung, wenn man jung ist und keine Angst hat, dann wird man wie ein Engel. Baute: Nochmal zurück zum Look des Films: Da gibt es ja ein paar Mal diese zerhackten Bewegungssequenzen, diese gescratchten Filmbilder. Was erzählen die, außer: »Ich gucke Videos und weiß, was man mit Film so alles machen kann?« Pethke: Das ist so ein Hipness-Schnörkel, sowas wird ja geradezu verlangt von sich modern gebenden Filmen. Michael Freerix: Für mich ist das ein Element, mit dem Becker versucht, eine Linearität zu stören: Es geht jetzt nicht immer so weiter, sondern es gibt Brüche in der Wirklichkeit, es gibt Wiederholungen. Also stellt er das filmisch dar, mit diesen jump cuts, Bewegungen werden wiederholt, Kreisläufe entstehen, ohne dass das jetzt in den Plot hineingenommen wird. In die Szenen wird damit nicht eingegriffen, das Flüssige an ihnen nicht gebrochen. Blanke: Okay, es geht um eine Zustandsbeschreibung, die auch gleichzeitig ein Stillstand ist. Deshalb macht der Film auch aus keinem seiner Themen ein Drama, und nichts, was jemand tut, hat wirklich eine Konsequenz. Es gibt eine banal lineare Erzählung von zwei rivalisierenden Gangsterclans, die um zwei Prostituierte einen Machtkampf in einer deutschen Kleinstadt ausfechten. Das hat nichts zu tun mit einer Demontage von Zeitkontinuen oder Ähnlichem, wie es das bei »Pulp Fiction« gab oder wie es bei mittlerweile jedem zweiten ambitionierten Fernsehspiel passiert. Das ist eine nachträglich hingeklebte Behauptung, dieses »Story one, Story two«, aber das bringt der Film nicht wirklich. Fast jede Anekdote führte im Grunde wie eine normale Szene in die nächste Szene ein, selbst wenn es dazwischen einen Text gab: Die Soundso-Story. Baute: Der Film kündigt diese Anekdoten an, diese Stories, und unterspielt sie dann. Man wartet auf die Pointe, auf so eine Art Klimax, aber das wird immer unterlaufen. Zum Beispiel bei der »Istanbul-Story«: Da sind Ertan und Kemal nun in Istanbul, könnten sozusagen Türkisch-Sein authentischer leben. Ertan setzt sich einen Schuss, und das erste, was er dann sagt, ist: »Ich will nach Hause.« Und schwupps ist er wieder in Kiel. Blanke: Das hört sich jetzt, wo du's erzählst, toll kaltschnäuzig an. Im Film fand ich's mau. Baute: Das Problem ist, dass Becker die Leute nicht gleichmäßig inszeniert. Da ist zum Beispiel die Rolle des Gülem in der »Kranker-Mann-Geschichte«. In der Psychiatrie, in diesem leeren großen Raum gibt es eine Art Gegenüberstellung: Gülem sitzt da allein an einer Tischseite, ganz in weiß, innerlich zerrissen, zerstört, depressiv. Ihm gegenüber der Familienbesuch. Kein Kontakt. Dann der Auftritt von Ertan im Schuss-Gegenschuss: Er hält eine entschlossene Predigt und macht das total cool, mit einer Lust an Sprachinszenierung, was der Film ja überhaupt will. Aber Ralph Herforth als Darsteller des depressiven Türken, der muss Method-Acting spielen, der muss Marlon Brando spielen, der denkt sich da richtig rein in seine Rolle. Blanke: Du hast Recht: Herforths Tränen waren echt, den hat keine Zwiebel zum Weinen gebracht. Aber gerade in dieser Szene funktionierte das mit dem Text als Rap. Das fand ich einen großen Moment des Films, weil er da diesen Slang erzählen konnte, aber in diesem Slang tatsächlich noch so etwas wie eine Mitteilung war, die einen ergreifen konnte, was ja sonst eher vermieden wird. Genau da kriegt der so etwas wie einen Bruch hin, genau da ist vielleicht zu sehen, was Becker vielleicht tatsächlich wollte, einerseits das realistische glaubwürdige Bild und andererseits den coolen Film, einen Rap darüber, über diese Kanakster-Community in Deutschland. Lenssen: Ertan sagt zum depressiven Gülem: »Ich verstehe dich, weil es mir so ähnlich geht wie dir!« Das ist eine Verbrüderungsszene! Er sagt: »Ich bin drogensüchtig und kriminell.« Das sind die zwei Eigenschaften, die er von sich in die Rede reinpackt. Und das genau bringt ihn dazu zu sagen: »Du gefällst mir, weil du nicht so ein Arschloch bist wie die anderen.« Das heißt, er sagt in dieser Szene auch etwas über sich. Es geht nicht ums Geld beim Kriminell-Sein, sondern es geht darum, gut zu leben oder schnell zu leben oder etwas aus seinem Leben zu machen. Und das ist seine Kanak Attack! Blanke: Der Trick bei der Szene war zu erzählen, dass Ertan seinen Bruder bekommt, den anderen, der aber auch für ihn spricht und das Leiden an der Welt und an den Zuständen für sich in Anspruch nehmen kann. In dieser Predigt, die Ertan Gülem hält, setzt er sich parallel zu Gülem. Das ist eine sehr elegante Lösung, da braucht Ertan selbst keine Szene mehr, die ihn total deprimiert zeigt. Da gelingt es dem Film dann doch noch, der Figur des kleinen Gangsters Tiefe zu geben. Lenssen: Ertans Großspurigkeit soll ja für uns so rüberkommen, als ob er ein besonders brüderlicher Typ ist, der mit den Leuten, mit denen er umgeht, besser umgeht als die Normalos. Das ist die Attacke an dem Ganzen. Pethke: Aber das hat für mich nichts mit der Türkei zu tun, sondern mit Gangsta, mit Gangster-Ethos. Lenssen: Mit dem Kodex, ja, aber gespeist von irgendwie türkischen Erfahrungen. Pethke: Tarantino-Erfahrungen! Da sehe ich wirklich Tarantino- Rezeption: Was ist cool? Was ist nicht cool? Marcus Twellmann: Aber glaubt man denn noch, dass es eine authentisch-türkische Erfahrung gibt, die nicht vermittelt wird durch US-HipHop und Kino, und die verloren geht, sobald man sich nur auf diese Importe konzentriert? Blanke: Das finde ich ja so interessant, dass das Second-Hand- Leben oder -Erfahrung ist, aber darüber möchte ich was erfahren und das nicht nur kostümiert bekommen. Mich würde interessieren, wie dieses Leben innerhalb dieses Second-Hand-Rahmens irgendwann dann doch von Deutschland beeinflusst wird oder sich da abarbeitet oder verweigert oder sonstwas. Dann bekommt das für mich auch wieder eine Dreidimensionalität und Tiefe und auch wieder einen Witz. Das Komische, aber auch dieses Ergreifende: Aus Mangel an einer brauchbaren Lebenswelt für einen türkischen 17jährigen bedient der sich bei den Goldkettchen und den Nike- Sneakers der amerikanischen Ghettos. Irgendwas davon will ich in so einem Film abgebildet haben, aber dafür braucht man gleichzeitig auch dieses komische Deutsche. Twellmann: Aber was ist denn, wenn man von den gleichen genrehaften Bildern fasziniert ist wie die türkischen Kleinkriminellen, über die man was erzählen will? Das ist doch eine interessante Konstellation! Blanke: Klar, und das ist ja auch konzeptionell: Der Film stellt eben nur dilettierende Nachmacher von irgendwelchen im Grunde auch nur im Kino für wahr gehaltenen amerikanischen Verhaltensmustern vor. Aber das zieht er dann nicht mit vollem Ernst durch. Pethke: Ich finde, die Beschreibung trifft eher auf den Regisseur selbst zu. Der rennt auch vergeblich seinen Vorbildern hinterher. Baute: Das könnte man doch aber auch als Qualität denken, als eine gute Eigenschaft, dass Becker eine Balance anstrebt zwischen Siebziger-Jahre-Realismus und Tarantino-Vorgaben, mit dessen rhythmischeren, pointierteren Erzählungen, dass Becker also beides mischen will. Twellmann: Man könnte sagen, dass die Szene, in der Benno Fühmann als Knastnovize mit einer gefaketen Gangeinführung verarscht wird, für den ganzen Film steht, weil da gezeigt wird, wie eine Genreszene innerhalb des Films von den Charakteren selbst fingiert wird. Dabei spielen Vorbilder eine wichtige Rolle, die kann man dann als filmische identifizieren. Diese Kleindelinquenz wird also eine sein, die sich auch von selbst permanent fingiert. Blanke: Deshalb habe ich auch an die anderen 150 Filme gedacht, die ich gesehen habe, in denen es sowas gab: Gangauseinandersetzungen, Initiation eines neuen Mitglieds. Ich finde es ja auch okay, diese ganzen Vorbilder zu haben, und Nachmachen sowieso, aber an dieser Stelle war es für mich nicht zu deuten, nicht zu verstehen. Twellmann: Es gibt einfach nichts zu verstehen. Diese dilettantische Nachahmung von amerikanischen Vorbildern findet in Kiel statt, und die bleibt eben ohne Pointe und ohne Geschichte. Da kommt dann ja auch das Scratching ins Spiel. Das taucht doch zum ersten Mal auf, als gesagt wird, dies sei keine Geschichte, die ein Ende und einen Schluss hat. Gescratcht wird in Szenen, in denen jemand geht, in denen es ein Vorangehen gibt. Das wird dann unterbrochen und immer wieder zurück geführt: eine Allegorie des Erzählprinzips. In diesem Sinne ist auch klar, dass das Fehlen eines Anfangs und eines Schlusses, diese Pointenlosigkeit eben, auch etwas ist, was gezeigt werden soll. Dazu gehört dann auch die Frage: Wie verhält sich mein quasi-dokumentarischer Anspruch zur Verwendung von genrehaft vorgegebenen Formen und Strukturen? Man könnte ja sagen, dass eben genau jene Nichterfüllung oder das Zurückbleiben hinter den Vorbildern erzählt werden soll. Das ist ja eben das Spannende. Blanke: Spannend finde ich es ja leider letztlich nicht. Der Film hat mich am Ende nicht groß interessiert, denn er ist nicht gut erzählt, nicht politisch und auch nicht komisch. Pethke: Der Showdown am Ende zum Beispiel wird in einem halbgaren Stilmittel-Mischmasch dargestellt: Zeitlupen, freeze frames, eine Kranfahrt, dann extreme Aufsicht von ganz weit oben. Zusammengehalten wird das alles aber von einer faden Halbtotalen, in der sich zum Schluss zwei schluchzende Frauen profilig in die Arme fallen. Für mich sieht das so aus wie: »Nach dem technischen Schnickschnack haben wir nicht mehr genug Zeit und Geld, jetzt müssen wir den ganzen Rest in einer Einstellung drehen.« Blanke: Genau: Schnell noch ein bisschen Nebel und blaues Licht von der Seite. Grässlich! Das ist dann wieder die Dr. Dieter Wedel-Schnittfolge, das kann man nicht anders sagen. Aber das liegt nicht an Geld oder Technik, sondern daran, dass in dem Film einfach kein Realismus ist. Die Figuren sind überhaupt nicht geerdet, die wirken komplett erfunden und kostümbildnerisch ausgestattet. Dabei schließen sich Realismus und Story und Genre keineswegs aus! Bruce Willis wäre in »Die Hard« ohne die Beziehungsprobleme mit seiner Frau ein öder Jean- Claude Van Damme gewesen. Oder »Trainspotting«, der, ohne dass es je moralisch wurde, das Abgefahrene der Heroinszene erzählt und gleichzeitig ihr Elend. Das gibt es in »Kanak Attak« nicht, nicht mal versuchsweise. Das ist Feigheit, diese ganze schmissige Türk-Dealer-Kultur funky darzustellen und den Dreck komplett rauszulassen, weil dann vielleicht nicht so viele ins Kino kommen. Baute: Das ist durch die Perspektive geregelt, es ist eine Heldengeschichte. Hier wird von Helden erzählt, von Engeln, und zwar von ihnen selbst. Blanke: Könnte der Film denn für eine türkische Community als Kultfilm taugen, als Identifikation? Freerix: Dazu sind die Figuren viel zu gebrochen, zu vielschichtig. Blanke: Was heißt denn das? Dass Jugendliche ein komplexes Bild von sich nicht wahrnehmen wollen? Freerix: Nein, aber der Film ist zu wenig stabil oder druckvoll, viel zu zurückgezogen, zu wenig Unterhaltung oder Entertainment. Das ist ja kein Actionkino. Das sind auch nicht die Superhelden, die alles hinbekommen. Das sind Großmäuler, die unheimlich eins in die Fresse kriegen. Aber das macht ihnen nichts aus. Es gibt da kein Ende. »Kanak Attack«, D 2000. R: Lars Becker. Mit Luk Piyes, David Scheller, Tyron Ricketts, Nadeshda Brennike. Start: 16. November http://www.jungle-world.com/_2000/47/28a.htm ________________________________________________________________________________ no copyright 2000 rolux.org - no commercial use without permission. is a moderated mailing list for the advancement of minor criticism. post to the list: mailto:inbox@rolux.org. more information: mailto:minordomo@rolux.org, no subject line, message body: info rolux. further questions: mailto:rolux-owner@rolux.org. home: http://rolux.org/lists - archive: http://rolux.org/archive