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deleuze.net not found

Von Zeit zu Zeit wirft die Geschichte ihre leeren Flaschen aus dem Fenster, und es gibt tausend gute Gründe, das Ende des dotcom-Booms, das Verschwinden der digitalen Shopping Malls und das Verstummen des sie begleitenden Geschwätzes mit Schadenfreude zu quittieren. Dass gerade den Kommerzialisierungsgegnern und Netzkritikern der ersten Stunde jedoch kein einziger dieser Gründe mehr einfallen mag, liegt weniger an ihrer legendär kurzen Aufmerksamkeitsspanne, als vielmehr an einer verborgenen und zugleich umso offensichtlicheren ideologischen Verwandtschaft zwischen den Visionären einer alternativ-autonom-anarchischen Netzkultur und den Apologeten der neuen digitalen Ökonomien und Märkte.

Wenn es sich beim Zusammenbruch des e-Commerce um das Platzen einer "Spekulationsblase" gehandelt hat, dann war die grundlegende Hypothese, der schlagartig alle heiße Luft entwichen ist, vor allem die Wette, in den digitalen Netzen lasse sich der Kapitalismus an seine Grenze treiben und das Internet werde eines Tages deleuzianisch gewesen sein. Eine Archäologie des vermeintlichen Wissens, das unter den Trümmern der Startups von gestern und in den Ruinen der Netzkritik von vorgestern begraben liegt, würde in beiden Fällen auf die gleichen Bruchstücke einer hoffnungslos euphorischen Verwendung jener Begriffe stoßen, in denen Deleuze und Guattari Ende der Sechziger bis Ende der Siebziger den Kapitalismus zu denken versucht haben.

Während jeder, der heute noch den Versuch unternähme, mit einem farbigen Badge am Revers und einem Businessplan in der Tasche ein paar Millionen Euro oder Dollar Risikokapital zu akquirieren, mit schallendem Gelächter zu rechnen hätte, rennt gleichzeitig eine ganze Generation selbst gemachter Netztheoretiker mit nicht viel mehr als jeweils einem ungelesenen Exemplar der Tausend Plateaus unterm Arm bei Kunstinstitutionen, Zeitungsredaktionen und Universitäten offene Türen ein. Dass die Rede vom Internet als einer rhizomatischen Wunschmaschine, die entlang ihrer Fluchtlinien und Deterritorialisierungsvektoren harte Identitäten und feste Kapitalanlagen gleichermaßen verflüssige, in eine neue Runde zu gehen droht, ist vor allem deshalb so verheerend, weil die dritte Phase des Internet, deren Anfänge schon vor dem viel zitierten 11. September liegen, die erste zu werden scheint, die nicht mehr von der sozialen und ökonomischen Romantik der frühen Siebziger angetrieben wird, sondern von den globalen Kontrollphantasien jener Militärstrategen, die die Architektur des Netzes in den Sechzigern erfunden haben.

Wer heute den konjunkturellen Verlauf der Mesalliance von Neodeleuzianismus und Netzeuphorie nachzuzeichnen versucht, wird auf einen ersten Boomzyklus stoßen, der etwa 1992 zunächst verhalten beginnt, nach einer Serie sprunghafter Anstiege 1995 seinen Gipfelpunkt erreicht und anderthalb Jahre später derart abrupt zu Ende geht, dass sich das nicht allein mit den diskursiven Gewinnmitnahmen erklären lässt, zu denen es immer kommt, wenn auf einmal sehr viele Leute das gleiche reden. Die verbliebenen Zeitzeugen verlegen diese erste Hochphase der digitalen Deleuzianer gern in eine mythische Vorgeschichte, für deren legendenumranktes goldenes Zeitalter sie den Slogan "The Short Summer of the Internet" durchgesetzt haben: sagenhafter Aufstieg und plötzlicher Fall einer theoretischen Strömung, die das Netz als hypertextuelles, antihierarchisches, graswurzelhaftes und tendenziell organloses Medium benutzt und gefeiert hat. Ein unvoreingenommener Rückblick hätte nicht nur zu zeigen, warum all diese Behauptungen sich schon bald als völliger Unsinn erwiesen haben, sondern er hätte auch ihren spezifischen Umschlagspunkt zu benennen, nämlich den Moment, an dem die begriffliche Lebenswelt einer bis dahin nur quantitativ anwachsenden Minderheit so sehr an Trennschärfe verliert, dass sie qualitativ ins Mehrheitsfähige kippt. Wir haben es also eher mit einem feuchtwarmen Spätsommer der Netzkritik zu tun, mit einer Zeit, in der die entsprechenden Buzzwords längst überreif von den Bäumen hingen - und auch das nur, wenn man unbedingt der Mode folgen will, auf historische Entwicklungen ausgerechnet den Lauf der Natur zu projizieren.

Tatsächlich konnte man Mitte der Neunziger ganzen literaturwissenschaftlichen Fakultäten dabei zusehen, wie sie, verzückt von der Idee des World Wide Web als einer wild wuchernden Verweismaschine, riesige Gärten hypertextueller Theorie auf ihren Universitätsservern anlegten, während einen Flur weiter die Kollegen von der BWL bereits breite Schneisen durch den Info-Dschungel schlugen. Das Wort von der Datenautobahn machte die Runde, von einer drohenden Stratifizierung, der weniger aus politischen als vielmehr aus ökologisch-ästhetischen Gründen die Rückkehr zur labyrinthischen Landschaftsarchitektur des Rokoko vorzuziehen sei.

Diese Hoffnung auf das Entstehen gewissenhaft gepflegter netzliterarischer Hypertextrhizome hat sich von all den Verheißungen des deleuzianischen Internet am schnellsten erledigt, zumal die entsprechenden Versuche sich schon aus strukturellen Gründen jeder Lektüre entzogen und letztlich nur bewiesen, dass nicht lineare Bewegungen zwischen Plateaus sich rein technisch nicht nachbilden lassen, sondern auf die lineare Organisation ihrer faktischen medialen Grundlagen angewiesen sind. Schon die interaktiven Irrgärten des späten Barock haben schlechter "funktioniert" und waren weitaus weniger populär, als man gemeinhin annimmt.

Etwa zur selben Zeit ging auf einem benachbarten Feld, das sich damals gern als "kulturwissenschaftlich" bezeichnete, die Theorie vom Internet als Immanenzebene um, deren Protagonisten einen Sommer lang bis spät in die Nacht und bis früh in den Morgen verkehrtgeschlechtlich in den Chatrooms hingen und über die antiidentitären Verheißungen subjektloser Kommunikation - gefolgt vom virtuellen Ende ihrer vermeintlichen Körper - spekulierten. Auch in diesem Fall genügte ein Blick über die Grenze der eigenen Disziplin, um die Doktoranden der Juristerei dabei zu beobachten, wie sie die handfest transzendentalen Pfeiler von Online-Recht und Ordnung in den Cyberspace einzogen, was die Immanenzverfechter jedoch weder auf die Barrikaden noch zurück zur Kritik, sondern nur umso tiefer in das Beharren auf der Gültigkeit der eigenen Erfahrung trieb.

Der Irrglauben, die Schleier der bürgerlichen Subjektivierung würden sich lüften und die Grenzen des männlichen Körpers verschwimmen, begleitet seit dem 19. Jahrhundert die Einführung jedes neuen Mediums. Die Einführung des Kabelfernsehens in den Achtzigern fand ihr Echo in den elegant gescheiterten medientheoretischen Manifesten und Meditationen der Agentur Bilwet, die Kinos der Zwanziger stürzten ihre Besucher in kollektive Delirien, die heute ihrerseits Kopfschütteln auslösen, und bereits 1835, bei der Eröffnung der Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth wurden die ersten deutschen Hippies aktenkundig. Das waren weniger die Kritiker, die warnten, ab 30 km/h werde man verrückt, als vielmehr diejenigen Passagiere, die darauf bestanden, tatsächlich Farben zu sehen.

Hartnäckiger als im akademischen Milieu hat sich die Rede vom deleuzianischen Internet an seinen Rändern gehalten, in den so genannten illegalen Wissenschaften, insbesondere in der autonomen Medien- und Pop-Theorie, von wo aus die entsprechenden Lesarten und Begrifflichkeiten mittlerweile überall dort wieder in die Institutionen zurückströmen, wo nur noch die spekulative Verzinsung vermeintlich subkulturellen Kapitals betrieben wird.

Die zentrale Figur, auf die die außerakademischen Netzforscher seit jeher ihre Hoffnungen projizieren, ist die des digitalen Nomaden, der ihrer Vorstellung nach ziel-, richtungs- und widerstandslos durch die elektronischen Netze wandert und von jeder physischen Territorialiät befreit per Telefon, Kabel und Satellit von Kontinent zu Kontinent driftet. Doch während der Hypertext-Hype immerhin noch Grundkenntnisse von HTML zu popularisieren half und die Immanenz-Euphorie zumindest indirekt die Bilwetsche Figur des Datendandys hervorbrachte (der wenigstens noch so sehr Punk - also Materialist - war, um zu wissen, dass es allem antiidentitären Eigentlichkeitsgeschwätz zum Trotz die Techniken sind, die die Delirien bestimmen), bearbeitete die rhizomatisch-romantische Rede vom Netz-Nomaden als neuem Subjekt der Geschichte ihr Feld so gründlich, dass dort auf absehbare Zeit kein Gras mehr wachsen wird.

Die theoretischen Verheerungen, die die Verschiebung des Deleuzeschen Nomadismus-Konzepts ins Digitale hinterlassen hat, kommen insbesondere in der landläufigen Überzeugung zum Ausdruck, der Nomade sei von einem wie auch immer gearteten Wunsch nach Bewegung getrieben, obwohl doch selbst die Tausend Plateaus mehrfach explizit darauf hinweisen, dass es sich beim Nomaden gerade um jene Gestalt handelt, die bis zuletzt versuchen wird, ihren Ort zu halten, die sich nur im äußersten Notfall von der Stelle bewegt, der angesichts der drohenden Segmentierungen ihres lokalen Territoriums jeder Gedanke an das Gleiten auf globalen Oberflächen fremd ist und deren Konzept von Raum das genaue Gegenteil dessen darstellt, was wir gemeinhin als Mobilität bezeichnen. Und doch beharren die Fans des Nomaden auf dem obszönen Irrglauben, ausgerechnet in den Surfern der digitalen Netze und elektronischen Wellen fände der Nomade seine aktuelle Entsprechung - obwohl er doch gerade deshalb Wüsten und Steppen bewohnt, weil man dort, wenn überhaupt, am langsamsten vorankommt und die Eigenheiten des Geländes ihn zudem davor bewahren, von den Protagonisten der neuen (vom späten Deleuze zu Recht als genuin kontrollgesellschaftlich gedissten) Sportarten - Springen, Gleiten und eben Surfen - heimgesucht zu werden. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass der Nomade zwar immer wieder auf unvorhergesehene Weise von mächtigen, zum Teil weit überlegenen Feinden in die Flucht geschlagen, nie zuvor jedoch so schamlos durch die Gegend gezerrt wurde wie in den Deleuzianischen Neunzigern des Internets, deren Ende noch immer nicht in Sicht ist, sodass man den Nomaden weiterhin vor allem vor seinen Freunden in Schutz nehmen muss.

Nun herrscht allerdings auch bei Leuten, die nicht gleich jede begriffliche Verwirrung und jedes konzeptuelle Knäuel als potenzielles Rhizom feiern, die Ansicht vor, all diese hippiesk-esoterischen Ausläufer der mythischen Vorgeschichte des Internet hätten sich, wenn nicht erledigt, so doch angesichts der weitgehenden Kommerzialisierung, Stratifizierung und Transzendentmachung des World Wide Web so weit zurückgezogen, dass aus dieser Richtung keine ernsthafte Gefahr mehr drohe. Der Deterritorialisierungssommer, so ihre These, sei in den naturgesetzmäßig notwendigen Herbst der Reterritorialisierung umgeschlagen, und der abrupte konjunkturelle Einbruch der Netzkritik erkläre sich schlicht aus dem im selben Moment umso plötzlicher einsetzenden Boom des Neuen Marktes. Dabei verkennen sie jedoch völlig, dass auch das ideologische Gepäck der Startup-Gründer, e-Entrepreneure und Risikokapitalisten, die zwischen 1996 und 1997 die diskursive Vorherrschaft im Internet übernahmen, zu einem nicht geringen Teil aus ähnlichen Versatzstücken eilig quer gelesener, primärer wie sekundärer Deleuze/Guattari-Texte bestand, die jetzt jedoch auf eine derart irre Weise zu ökonomischen Modellen und Businessapplikationen kurzgeschlossen wurden, dass sich daneben noch die windigsten Theorien von der neorural-nomadischen Zukunft des Cyberspace wie harte Wissenschaft ausnahmen.

In ihrem grundlegenden, hierzulande weitgehend ignorierten Aufsatz "The Californian Ideology" haben Richard Barbrook und Andy Cameron schon 1995 nicht nur das bizarre theoretische Patchwork beschrieben, auf dessen Grundlage die Apologeten des Online-Business schon bald ihren gleichermaßen kurzen wie triumphalen Siegeszug antreten sollten, sondern auch die kulturellen Herkunftslinien der neuen unternehmerischen Strategien und Tugenden zurückverfolgt, die bis heute die Management-Seminare beherrschen: absurde Fusionen von Slackertum und Technikoptimismus, die allerdings - im Gegensatz zur deutschen Ideologie (Netzkultur als völkische Einheit von "Laptop und Lederhose") - ohne reaktionären Ballast auskommen.

Die Internet-Revolution des e-Commerce war gerade nicht die konservative Gegenrevolution einer Wirtschaftselite, die die Abenteuerspielplätze des Netzanarchismus abräumte, sondern die Fortsetzung dieses Anarchismus mit anderen Mitteln. Sie ist der späte Triumph einer in der Hippiebewegung der amerikanischen Westküste verwurzelten politischen Strömung, die seit den Sechzigern für einen radikalen Liberalismus eingetreten war, der sich als Option auf "analogen" sozialen Fortschritt zwar spätestens mit den Achtzigern erledigt hatte, als grundlegende Ideologie einer neuen digitalen Sozialutopie jedoch schon seit den frühen Neunzigern eine ungeahnte Renaissance erlebte. Die vor allem in Wired, dem Zentralorgan der Bewegung, lancierte Wette lautete, dass die Idee von der radikalen Freiheit der Individuen, die sich als soziale Forderung nicht hatte durchsetzen lassen, im Zeitalter der globalen Vernetzung sich als zwangsläufige Folge des technischen Fortschritts ganz von selbst realisieren würde.

Was den umherschweifenden Unternehmern des digitalen Kapitalismus - die sich in ihrer Hochphase, 1999, sogar unwidersprochen nachsagen ließen, in Wirklichkeit an der Errichtung des globalen Cyberkommunismus zu arbeiten - an Deleuze gefiel, war neben der grob verkürzten These, die Funktion des Kapitals bestehe hauptsächlich darin, fortwährend Grenzen zu verschieben und niederzureißen, vor allem der (bei Deleuze von Nietzsche her in den Text strömende) Vitalismus, der sich in Richtung einer biologistischen Übermetaphorik verschieben ließ, in deren Begriffen fortan das Funktionieren ökonomischer und sozialer Systeme beschrieben werden sollte.

In Reinform lässt sich dieses Denken in Out of Control, dem Hauptwerk des ehemaligen Wired-Herausgebers Kevin Kelly, bestaunen, wo Kapital als Natur, Kapitalismus als Biosphäre und das Zirkulieren von Geld, Menschen und Ideen um den Globus als natürliches Flottieren von Schwärmen, Herden und Wellen im organischen Ganzen eines ökologisch selbst regulierten freien Marktes gedeutet wird; mit dem Treppenwitz, dass noch das Platzen der Spekulationsblase sich als finale Ankunft des organlosen Körpers interpretieren lässt. Kellys Nachfolger bei Wired, die ansonsten vor allem damit beschäftigt waren, ihre vulgär-schizoanalytische Kapitalismustheorie - Geldströme (Venture Capital) gegen Scheißeströme (Content) - als Businessmodell anzupreisen und das nahende Ende der Lohnarbeit auszurufen, verkündeten bald darauf, das Internet lebe tatsächlich. Mit spürbarer Verzückung entwarfen sie bereits das Szenario pervasiv gewordener, sich real in die Natur auflösender Netze, deren kleinste organische Knoten wahlweise von Biotech-Startups in den menschlichen Körper versenkt oder von AT&T-Helikoptern flächendeckend über den Metropolen abgeworfen würden.

Einzig die europäische Linke, die das Studium amerikanischer Internetzeitschriften in den 90ern fast vollständig versäumt hat, hielt solche Phantasien noch zu einem Zeitpunkt für irrelevante, gar amüsante Auswüchse kalifornischer Science-Fiction, als die IT-Industrie bereits derart astronomische Werbebudgets in das ohnehin schon achtfarbig gedruckte Magazin pumpte, dass dieses auf das Format eines mittleren Telefonbuchs anschwoll und zugleich in völlig neue Regionen des Risikojournalismus vorstieß. Der Dow Jones, so verkündete die Prawda des digitalen Hippietums 1999, werde bis 2008 die 40.000-Punkte-Grenze durchbrechen, um sich Mitte des 21. Jahrhunderts zwischen 250.000 und 400.000 einzupegeln - und spätestens dann würden sich die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit (insbesondere Race, Class und Gender) von selbst erledigen.

Gerade angesichts des offensichtlichen Irrsinns einer solchen Deterritorialisierungshypothese reicht es nicht aus, von einer bloß ideologischen Blase zu sprechen, wurden doch auf der Grundlage von Prognosen wie dieser in den USA binnen weniger Jahre die Reste staatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik beseitigt und die materiellen Grundlagen für jene Ordnung geschaffen, in der sich der militärisch-unterhaltungsindustrielle Komplex seine Politik mittlerweile ungestört selber macht. Die europäische Linke, die heute in Hardts und Negris Abgesang auf die starken Staaten und fetten Regierungen einstimmt, bleibt dringend eingeladen, in Thomas Franks One Market under God nachzulesen, in welchem Ausmaß sich in den USA der Wired-Ära die Ansicht durchgesetzt hat, Demokratie und Bürgerrechte seien Errungenschaften, die von den heroischen Anführern des freien Marktes permanent gegen die Vertreter von Regierung und Parlament durchgesetzt werden müssten.

Das spektakuläre Scheitern auch der zweiten Welle der Netzeuphorie - wenngleich die Chefrhizomatiker von America Online, denen heute nicht nur Netscape und Compuserve, sondern auch die Filmstudios der Warner Brothers, die Labels Columbia und Elektra, die Zeitschriften Time, Life, Fortune und Money sowie der Fernsehsender CNN gehören, zu Recht darauf bestehen dürften, Scheitern sehe anders aus - hat sich wohl bis in den letzten Winkel des Globus herumgesprochen. Doch gerade auf Seiten der europäischen Netzintelligenz hat das bloß zu Ratlosigkeit geführt. Eine rapide schrumpfende Zahl rapide wachsender Konzerne setzt im Kampf gegen die angeblichen Verbrechen von Software-, Musik- und Biopiraterie digitale Urheber- und "geistige" Eigentumsrechte durch, mit denen sich nicht nur sämtliche nicht kommerziellen Formen des Datenaustauschs präventiv kriminalisieren, sondern auch die natürlichen und sozialen Ressourcen ganzer Kontinente enteignen lassen. Zugleich etablieren amerikanische wie europäische Regierungsfirmen die technischen Standards einer elektronischen Sicherheitsarchitektur, neben der die Überwachungsmethoden des 20. Jahrhunderts dilettantisch wirken. Und die Veteranen der Netzkritik fegen unentgeltlich die entvölkerten Flure der digitalen Shopping Malls und führen in ihrer reich bemessenen Freizeit auf den einschlägigen Mailinglisten ihre tragischen Niederlagen von einst als Farce wieder auf: in diesem Herbst, indem sie die Geschäftsbedingungen des befreundeten New Yorker Netzkunst-Startups Rhizome.org als kasinokapitalistisch dekonstruieren. Na pfui, wie geht denn das zusammen, wer hätte das gedacht? Da passt es ins Bild, dass die Zeitschrift Konkret ihren Lesern ausgerechnet Telepolis als Startportal für Netzlinke empfiehlt, was ähnlich viel Sinn macht, als würde De:Bug ihrem Publikum zum Einstieg in die Kapitalismuskritik das Verbrauchermagazin WiSo ans Herz legen.

Das Internet ist heute auf dem besten Weg, die neuen Formen elektronischer Arbeit und Freizeit restlos miteinander zu vernetzen und computerisierte Freude, Verschwendung, Knappheit, Sklaverei und Paranoia zu einem weltweiten 24stündigen Arbeitstag zusammenzusetzen: zu jenem digitalen Kontinuum, das vielen von uns zumindest spielerisch bereits vertraut ist als die sich vollendende Einheit von Spaß und Terror in einer radikal vereinzelnden Neuen Ökonomie.

Zur gleichen Zeit wirft die Geschichte ihre leeren Flaschen aus dem Fenster. Das Internet wird nicht deleuzianisch gewesen sein, sondern - read my lips, make no mistake - das erste Massenmedium der Kontrollgesellschaften. Deren Wappentier wird nicht die Schlange gewesen sein, sondern der Linux-Pinguin. Die globale Vernetzung autonomer Produzenten wird kein Rhizom gewesen sein, sondern der Produktionsmodus der hierarchichsten Wirtschaftsordnung, die die Welt je gesehen hat. Die Grenze des Kapitalismus wird kein Ort gewesen sein, an dem sich eine hübsche Aussicht auf sein mögliches Jenseits eröffnet, sondern gerade jener Bereich, in dem die herrschenden Verhältnisse am härtesten um ihr Fortdauern kämpfen. Und eine Linke, die Morpheus für einen Filmhelden und PHP für ein Verschlüsselungsverfahren hält (und auch ansonsten glaubt, ihr gemeinsamer Boden bestünde aus geteilten Meinungen statt aus geteilten Methoden) wird, selbst wenn sie den mittleren Deleuze endlich durch den späteren ersetzt haben wird, keine Linke gewesen sein, sondern bloß eine Rechte unter vielen.